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Kontexte

Interview 2020

Freie Journalistin AZ: Finden Sie es befremdlich, wenn sich ein Mann mit dem weiblichen Geschlechtsorgan auseinandersetzt?

Tobias Binderberger: Im Gegenteil. Ich klebe meine Zettel nicht nur für Frauen in die Stadt. Auch Männer sollen sich mit diesem Thema beschäftigen.

AZ: Inwiefern regen Ihre Zettel, mit denen Sie anbieten, Vulven abzuformen, die Diskussion darüber an?

Binderberger: Betrachten Sie es als einen Beitrag, den ich als bildender Künstler mit meiner Arbeit im öffentlichen Raum leisten kann. Für mich steht die Begrifflichkeit der „Vulva“ im Zentrum, die ich mithilfe der Zettel „Vulva – Du möchtest Deine Vulva kennenlernen? Dann lass sie von mir plastisch abformen!“ gerne in ganz München und eigentlich auch in anderen Städten präsent machen würde.
Dahinter steckt meine jahrelange Beschäftigung mit Gender Studies. Daraus gewonnene Erkenntnisse begegnen mir auch im Alltag und werden so immer wieder thematisiert. Ein Beispiel: Wenn Sie am Marienplatz mit der Rolltreppe nach oben fahren, springt Ihnen eine Werbung für sogenannte Schönheitsoperationen der Vulvalippen entgegen. Ich finde es sehr bedauerlich, wenn sich Frauen rein aus ästhetischer Sicht verändern wollen, um einem Ideal nachzueifern, das ihnen eine männlich dominierte Gesellschaft vorlebt.

AZ: Wie greift Ihre Arbeit diese Problematik auf?

Binderberger: Ich will, dass jede*r Passant*in den Begriff „Vulva“ liest und damit klarkommt. Indem ich den Begriff in den öffentlichen Raum setze, wird er zur Kommunikation und damit zum Bestandteil der notwendigen Diskussion. Wichtig hierfür ist, etwas Provozierendes zu hinterlassen und meine bildhauerische Tätigkeit damit zu verbinden.

AZ: Weshalb ist das Sprechen über den Begriff „Vulva“ so wichtig?

Binderberger: Weil dessen Bedeutung oft überhaupt nicht verstanden wird – was sowohl Frauen als auch Männer betrifft. Man deutet auf das weibliche Geschlechtsorgan und sagt „Vagina“, obwohl man „Vulva“ meint. Das ist ein sehr großes Problem! Beides sind anatomische Begriffe, bezeichnen aber ein unterschiedliches Organ. Die Vulva ist der äußere, sichtbare Teil, die Vagina der innen liegende Schlauch, der den äußeren Muttermund mit dem Vorhof verbindet. Historisch gesehen könnte man sagen, dass dieses Phänomen der falschen Bezeichnung mit Machtverhältnissen und männlicher Dominanz zu tun hat, die auch eine Unterordnung und Reduktion der Frau widerspiegelt.

AZ: Könnten Sie diese Erkenntnis genauer ausführen?

Binderberger: Zunächst betitelt diese landläufige Bezeichnung eine Öffnung, ein Loch, das bei vielen den Eindruck hinterlässt, es gäbe kein Organ wie einen Penis, der durch seine Form offensichtlich etwas darstellt. Nach Meinung vieler Menschen fehlt beim weiblichen Organ etwas. Und das ist vollkommen falsch! Alle Bestandteile sind genauso vorhanden und bilden ein Organ, da ist die Vulva mit der Klitoris, die wiederum nicht nur eine kleine Perle ist, sondern ein sehr großes Organ mit Vorhofschwellkörpern, Schwellkörpern, dem Klitorishals, einem Häutchen…

AZ: Und dieses Missverstehen des Geschlechts findet sich auch bei Frauen wieder?

Binderberger: Leider ja. Oft fehlen die Kenntnis und das Bewusstsein über die eigene Vulva. Ich frage Frauen immer: Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihre Vulva verlieren und müssten sie im Fundbüro abholen. Würden Sie sie erkennen? Oftmals ist die Antwort: Nein. Deshalb unterstütze ich sie mithilfe der Abformungen (vulva casting) bei der Entdeckung ihrer Vulva und damit auch dabei, diese wiederzuerkennen.

AZ: Wie ist die Resonanz auf Ihr Angebot? Herrscht nicht auch Misstrauen?

Binderberger: Auf meinen Zetteln steht meine reale E-Mail-Adresse und mein Klarname. So stehe ich mit meiner Person hinter der Arbeit und zu meiner Haltung. Dadurch drückt sich die Seriosität meines Angebots aus. Vierzehn Vulven habe ich seit Anfang dieses Jahres abgeformt.

AZ: Wie darf man sich den Ablauf des Vulvacastings vorstellen?

Binderberger: Die Basis ist ein Vertrauensverhältnis. Anschließend kommt die Frau oder die Transgender-Person zu mir und bekommt eine spezielle Kleidung mit einem „Vulva-Fenster“. Während des Umziehens drehe ich mich selbstverständlich um. Das ist sehr wichtig: Es entsteht keine Intimität. Ich sehe die Vulva nur ganz kurz, gebe Dentalmasse drauf, dann Gips, dann gieße ich das Ganze und fertige zwei Artefakte. Eines bekommt die abgeformte Person, eines ich. Ich verzichte aber auch gerne auf meins, wichtig ist mir nur, dass ich ein Foto von dem Artefakt bekomme, um es zu veröffentlichen.

AZ: Sie teilen die Vulva-Abbildungen auf Instagram?

Binderberger: Ja. Denn es ist wichtig, den Begriff nicht nur zu setzen, sondern ihn auch zu visualisieren. Dadurch bekommen Frauen die Chance, Vulven anderer Frauen wahrzunehmen und deren Vielfalt anzuerkennen. Es geht hier nicht um Vergleiche und Rankings, sondern um Anerkennung.

AZ: Wenn man Ihr Profil auf Instagram sucht, erscheint der Hinweis, dass Nutzer Ihre Beiträge wegen sexueller Anstößigkeit gemeldet haben.

Binderberger: Darin spiegelt sich ja gerade das Problem, der Ist-Zustand: Die Sexualisierung der Vulva findet statt. Allein eine vollkommen neutrale Präsentation der Vulva führt bei vielen zu einem Empfinden sexueller Anstößigkeit. Meine Vision ist es, dem entgegenzuwirken, sie zu entsexualisieren, auch damit die Pornoindustrie nicht ihre Vorstellung der Vulva prägen kann.  Die Vulva ist einfach nur ein Organ, genau wie der Penis. Wenn ich sie sehe, dann ist das keine Aufforderung der Frau zum Sex, kein Einverständnis. Es bedeutet lediglich, dass ich eine Vulva gesehen habe.

AZ: Steckt auch hinter der Anzeige, die Sie erhalten haben, dieses Missverstehen?

Binderberger: Das Ordnungsamt hat die Polizei beauftragt, gegen mich zu ermitteln. Man wirft mir „grob anstößige und belästigende Handlungen nach Paragraf 119 OWiG“ vor. Ich habe dann dem Polizeiobermeister, der eine Stellungnahme wollte, meine bildhauerische Arbeit erklärt und ihn gefragt, ob das eine sexuelle Handlung darstelle. Und dann sagt der: Ja! Warum er das so sehe, konnte er mir allerdings nicht erklären. Um also Ihre Frage zu beantworten: Offensichtlich ja.

AZ: Was ist aus dieser Anzeige geworden?

Binderberger: In einer schriftlichen Stellungnahme habe ich ausführlich die Beweggründe und die Basis meiner Arbeit geschildert und viele Argumente gegen die auch von den Beamten durch die Einordnung vorgenommene Sexualisierung vorgebracht. Seitdem habe ich nichts mehr gehört.


Reaktionen auf die fälschliche Charakterisierung der Vulva-Abformungen als „sexuelle Handlung“

Aufgrund des wiederkehrenden Vorwurfs, dass es sich bei der Vulvaabformung um eine sexuelle Handlung handle, entstand folgende Argumentation.

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München, 18.06.2020

Dem mir von Ihnen angelasteten Verstoß widerspreche ich.

Am 26.05. habe ich den Abreißzettel „Vulva – Du möchtest Deine Vulva kennenlernen? Dann lass sie von mir plastisch abformen!“ in der Jahnstraße 38 am Gehweg zwischen 8-12 Uhr mit Tesaband angebracht. Dabei handelt es sich um einen scheckkartengroßen Zettel mit Abreißern und kein Plakat.

  1. Warum das plastische Abformen einer Vulva keine sexuelle Handlung ist

Ich bin diplomierter freier Künstler mit Schwerpunkt Malerei. Während eines Kunststudiums an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee ist das Aktzeichnen samt Vulva im Grundstudium semesterlanger Bestandteil. Auch an der Akademie München wird diese Tradition gelebt, jedoch auf freiwilliger Basis. Dabei beruft sich die KHB auf die Bauhaustradition. Bei der Vulvaabformung handelt es sich um eine klassische, bildhauerische Tätigkeit. Ein Stichwort ist dabei die Naturabformung – Totenmasken waren beispielsweise früher gängiger Brotverdienst von Künstlern (siehe auch die Ausstellung „Nah am Leben 200 Jahre Gipsformerei“ www.smb.museum). Es stellt eine Beleidigung meiner Person, der abgeformten Frauen und Transgender samt ihren Ehemännern oder Lebenspartnern dar, zu behaupten, sie hätten eine sexuelle Handlung mit mir vollzogen, bzw. ihr Vulvaabguss wäre ein Gegenstand für sexuelle Handlungen. Ich berufe mich auf die Berufsstände und deren Vertreter wie Gynäkologen, Intimpiercer, Tätowierer oder Kosmetiker in einem Waxing-Studio, die frei von dem Vorwurf sind, sexuelle Handlungen anzubieten. Meine Arbeit ist im Zusammenhang der Body Positive Bewegung zu verorten. Frauen und Transgender Personen wird von mir die Möglichkeit geboten, ein Selbst im Zusammenhang mit ihrer Vulva zu entwickeln. Ein Nebenaspekt ist die korrekte Begriffsbildung. Viele Unkundige sagen Vagina, wenn sie Vulva meinen, obwohl es grundsätzlich verschiedene Körperteile sind. Die anatomischen Begriffe Vulva und Vagina samt der Vulvaabformung werden bereits öffentlich diskutiert, beispielsweise mit den Sendungen „Vulva und Vagina – Neue Einblicke in die weibliche Lust“ und „Scobel-Vulva: „Lust und Tabu“ (14.05.2020) im Fernsehsender 3Sat. Außerdem besteht ein Artikel meiner Arbeit in der Abendzeitung (07.02.2020) und Focus.de (07.02.2020). Das Einzige, was an den Abreißzetteln bzw. der Tätigkeit oder dem Artefakt sexuell ist, ist die sexualisierte Phantasie einiger weniger Betrachter. Dann ginge es um den Anschein einer sexuellen Handlung. Was aber nicht die Mehrheit der Münchner, Kaufbeurer und Landsberger Bürger so sehen, wo ich meine Abreißzettel verklebe. Die Frauen, die sich bei mir melden, verstehen den Abreißzettel und dessen Inhalt richtig – nämlich als das was es ist: die plastische Abformung eines Körperteils. Dazu ist ein Vulvaabformkurs an der Münchner Volkshochschule in Planung, der nur wegen der Corona-Pandemie nicht im Wintersemester stattfinden kann. Dieser Kurs wird zukünftig mit derselben Begrifflichkeit im Katalog und online beworben – was auch hier kein Anbieten einer sexuellen Handlung bedeutet. Bei Anfragen halten Sie sich bitte an Frau Martina Fischer (089-480066720), die Fachgebietsleitung Bildende Kunst.

Beschreibung des Abformvorgangs: Die/das betreffende Frau/Modell schreibt mir auf tobias.binderberger@gmx.net. Dann beantworte ich die gestellten Fragen und übersende meine Atelieradresse falls die eindeutige Identität der Person geklärt ist. Bei mir im Atelier bekommt das Modell ein spezielles Kleidungsstück, das es komplett bedeckt und nur das abzuformende Körperteil freilässt (siehe OP Kleidung/Decken). Während sich das Modell umzieht, drehe ich mich um, damit nie ein Gefühl von Nacktheit aufkommt. Ich teile keine Intimität mit den Modellen. Das ist ein seit Jahrhunderten (Renaissance) gelebtes Künstlerverfahren beim Aktzeichnen. Nur wenige Sekunden sehe ich die Vulva um zu kontrollieren, ob wirklich alles frei liegt. Unmittelbar übergieße ich das Körperteil mit Dentalmasse und forme so ab. Ab jetzt ist das Modell wieder vollständig bedeckt also „angezogen“. Danach kommt ein Stützgerüst aus eisenarmiertem Gips darauf. Nach dem Trocknen hilft mir das Modell den Abguss abzunehmen. Nun erfolgt der zweite Abguss für mich, welcher meine Entlohnung darstellt. Während der Trocknungszeit, gieße ich die Form mit Gips aus, somit kann das Modell seinen Vulvaabguss direkt mit nach Hause nehmen. Die Prozedur dauert zwei Stunden. Dabei habe ich keine freie Minute, weder, um an sexuelle Handlungen zu denken, noch sie zu vollziehen. Vermutlich verschwinden die Abgüsse der Modelle in geheimen Schubladen. Mein Abguss wird fotografiert und auf Instagram gestellt (instagram.com/crocophobia). So können alle meine Follower die Formenvielfalt der Vulven anerkennen. Mein Artefakt wird dann, in Zeitungspapier gewickelt, in einem Karton gelagert. Dort warten die Abgüsse darauf, als Ausstellungsstück in Verbindung mit den Abreißzetteln, den Anschreiben der Polizei, meinen Stellungnahmen und einem Vulvaabformkleid (Paperdress), der Öffentlichkeit gezeigt zu werden.

  1. Warum der Abreißzettel als solches nicht anstößig ist

2.1 Formulierung?
Man ersetze „Vulva“ mit „Hand“. So lautet die Formulierung „Hand – Du möchtest Deine Hand kennenlernen? Dann lass sie von mir plastisch abformen!“ Diese Formulierung ist nicht anstößig.

2.2 Begriff?
„Vulva“ ist ein anatomischer Begriff und wird an der LMU und TUM im Fachbereich Medizin als korrekte Bezeichnung dieses Körperteils gelehrt (siehe auch Wikipedia „Vulva“). Der Begriff ist nicht anstößig.

2.3 Interpretation?

2.3.1 Gibt es eine allgemeingültige Interpretation/Lesart des Textes auf dem Abreißzettel?

2.3.1.1 Eine sexualisierte Vorstellung kann in jeder Handlung bzw. jedem Gegenstand etwas Sexuelles sehen (siehe Fetischisierung). Somit auch in jedem Text.

2.3.1.2 Die Modelle, die mich kontaktierten und sich abformen lassen, haben den Text nicht als sexualisiert wahrgenommen. Ich gehe davon aus, dass die meisten Münchner das auch so sehen.

2.4 Was wiegt schwerer, die Interpretation eines beschriebenen Sachverhaltes oder der reale Sachverhalt? Natürlich ist der reale Sachverhalt entscheidend. Das Abformen einer Vulva ist prinzipiell keine sexuelle Handlung (siehe oben).

Fazit: Der Text auf dem Abreißzettel kann im allgemeinen Sprachgebrauch nicht als anstößig verortet werden.

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